Mittwoch, 14. Februar 2018

Die Wiederkehr der SPD

Die Überschrift mag zu diesem Zeitpunkt überraschend wirken. Scheinbar ist die SPD am Ende. Erste Umfragen sehen sie bei 16,4 %. Der vor wenigen Monaten noch mit 100 Prozent gewählte Parteivorsitzende ist zur absoluten Lachnummer verkommen. Es gibt keine Fehlentscheidung, keinen Umfaller, den er ausgelassen hätte. Der Noch-Außenminister versuchte seine Absetzung mit einer peinlichen Jammernummer und Zitaten seiner Tochter abzuwenden und hat gerade dadurch bewirkt, dass keine derzeit mögliche Parteiführung ihn im Amt lassen kann, zumindest nicht ohne Gesichtsverlust. Nicht, dass Gesichtsverlust bei dieser Partei noch etwas zählte. Selbst die kontrollierte Machtübergabe des Vorsitzes misslang, weil jemand zart darauf hinwies, dass es "Parteivorsitz", nicht "Erbkönigtum" heißt, und dass es dem scheidenden Vorsitzenden eben nicht zustünde, sich einfach wild aus der Mitgliederschaft jemanden herauszupicken und kraft seiner verschwundenen Autorität zu verkünden: Die ist es.

Die designierte Nachfolgerin reißt auch nicht gerade zu Begeisterungsstürmen hin. Zu sehr neigt sie zu verbaler Kraftmeierei, zu selbstverliebt ist ihr Auftreten, und doch: Wenn jemand die SPD noch retten kann, wenn es jemanden gibt, den die SPD in diesen Tagen braucht, ist es Andrea Nahles. Das Spiel ist riskant, die Partei scheinbar in Auflösung begriffen, aber gerade deswegen sage ich: Etwas Besseres konnte ihr nicht passieren, wir erleben hier möglicherweise nicht das Ende, sondern einen neuen Anfang. Das ist kein heilloses Chaos, das ist der Umbau der SPD zu einer demokratischen Partei.

Über Jahrzehnte verwechselte die SPD großspuriges Mackertum mit Führungsstärke. Über Jahrzehnte unterdrückte sie dringend notwendige interne Diskussionen mit Kampfvokabeln wie "Solidarität" und "Stärke zeigen". Auf Parteitagen galten Kampfkandidaturen als Zeichen der Zerrissenheit, nicht als demokratische Selbstverständlichkeit. Vorsitzende wurden mit Zustimmungsraten gewählt, die irgendwo zwischen DDR und Nordkorea lagen. Peinlich genau wurde mit der Stoppuhr gemessen, wie lang die Delegierten applaudierten, und selbst bei Ansprachen auf dem Niveau einer Abirede musste es alle von den Stühlen reißen.

Vielleicht ist der einzige historische Verdienst, den man Martin Schulz zurechnen kann, nicht der, die SPD in den Abgrund gerissen, sondern durch seine Inkompetenz die Widersprüche in seiner Partei offengelegt und sie in einen Umwandlungsprozess gezwungen zu haben. Vielleicht geht es schief, aber ich behaupte, die Erfolgsaussichten sind gar nicht schlecht.

Ich sehe die missglückte Machtübergabe an Nahles nicht als peinliches Missgeschick, sondern als deutlichen Hinweis des Parteivolks: Es gibt Regeln. Nichts gegen Andrea, aber die wird immer noch gewählt, nicht inauguriert. So ist auch die Kampfkandidatur der Flensburger Bürgermeisterin gegen Nahles zu werten: nicht als ernsthaften Zweifel an ihrer Führungsrolle, sondern als Signal, dass sie eine echte Wahl im Sinne von Auswahl haben möchte.

Obwohl ich nichts von Nahles halte: Sie hat genau die richtige Mischung zwischen Bierzelt und Konferenzraum, den es gerade braucht. Das Bierzelt, in dem sie die gebeutelte Parteiseele aufpeppelt, der Konferenztisch, an dem sie hart, aber verlässlich verhandelt. Nahles hängt seit Jahrzehnten im Parteidickicht. Das Attribut "personeller Neuanfang" ist das Letzte, was mir bei ihrem Namen in den Sinn kommt. Dennoch hat sie es geschafft, sich aus den größten Katastrophen (sieht man einmal von ihren eigenen peinlichen Auftritten ab) herauszuhalten. Es gab schon einmal eine Frau, die völlig unterschätzt viele Jahre im Schatten der Platzhirsche ganz ruhig ihre Sachen erledigt hat, um dann, als um sie herum alles kollabierte, als Retterin aufzutreten, die Partei zu reformieren und wieder an die Macht zu bringen: Angela Merkel. Vielleicht gelingt Andrea Nahles das Gleiche für die SPD.

Freitag, 9. Februar 2018

Fertiggezockt

Am Ende der Koalitionsverhandlungen wurde noch einmal kräftig Pseudospannung aufgebaut. Oh nein, die erste Verlängerung, dann die zweite - es wird doch nicht etwa?

Natürlich nicht. Allen Beteiligten war klar: Diese Koalition kommt zustande, egal wie. Es kam nur noch darauf an, wer besser pokert.

Und besser gepokert haben, sehr zu meinem Erstaunen, die Spezialdemokraten. Natürlich kann man nicht sagen, sie hätten ihre Überzeugungen durchsetzen können. Dazu müssten sie welche besitzen. Außer der natürlich, dass sie um jeden Preis regieren wollen. Was ich nicht vermutet habe, ist, dass die CDU so sehr mit dem Rücken zur Wand steht, dass sie sich im Postengeschacher so weit runterhandeln lässt. Außenministerium: SPD. Finanzministerium: SPD. Innenministerium: CSU.

Besonders putzig finde ich das neu eingerichtete "Heimat"-Ressort. Ich hätte nicht für möglich gehalten, dass man die CSU so leicht  mit einem Verballeckerli ruhiggestellt bekommt. "Komm, darfst dich jetzt auch um die Heimat kümmern, wirst du wahrscheinlich genauso toll, wie ihr euch in den letzten vier Jahren ums Internet gekümmert habt, jetzt geh spielen." Natürlich ist es besorgniserregend, dass Seehofer Innenminister wird, aber wir haben auch Zimmermann, Schily, Schäuble und Kanther überstanden, da sollte es selbst Seehofer schwerfallen, einen neuen Negativrekord zu schaffen.

Andrea "Ätschi-Bätschi bis es quietscht" Nahles wird Parteichefin. Dann wird wohl bald das Pippi-Langstrumpf-Lied die Parteihymne. Zugegeben, mit einer siebenminütigen Rede auf dem SPD-Parteitag die Stimmung pro Koalition kippen zu können, ist eine Meisterleistung. Eine rhetorische Meisterleistung. Inhaltlich war die Rede dünn. Doch offenbar ist es genau das, was die Basis liebt: inhaltsleeres Gewäsch, emotional vorgetragen, und Claudia Roth war leider schon vergeben.

Den humoristischen Höhepunkt setzte ausgerechnet der ansonsten nicht gerade für Feinsinnigkeit und Sensibilität bekannte Noch-Außenminister Sigmar Gabriel, welcher der SPD "Wortbruch" vorwarf. Siggi, alter Freund und Chefstratege, kann es sein, dass du dich da ein ganz kleines bisschen verzockt hast? Ja, es war ein brillianter Schachzug vor dir, damals, vor einem Jahr als ungeliebter Parteichef beiseitezutreten, den bis dahin nahezu unbekannten Martin Schulz aufs Podest zu heben und sich zum Ruhestand ins Außenministerium zu verabschieden, einem Posten, auf dem selbst Klaus Kinkel nicht komplett inkompetent rüberkam. Schön hattest du es dir ausgemalt, denn so lange die SPD nicht ganz aus der Regierung fliegt, wird dein Nachfolger ja wohl kaum so undankbar sein, dich von diesem Posten wegzukicken.

Doch, ist er. Was überrascht dich daran? Du solltest deine Partei doch besser kennen, die SPD, deren oberste Würdenträger keine Überzeugung kennen, die sie noch nicht verraten haben. Wie viele Stunden hat es Heiko Maas gekostet, um vom großmäuligen Gegner der Vorratsdatenspeicherung zu deren glühenden Verfechter zu werden? Wer hat dafür gesorgt, mit der Agenda 2010 den Sozialstaat zu demontieren und damit die eigene Stammwählerschaft in die Armut zu treiben? Wer - ach egal, die Liste ist lang, und jetzt auf einmal jammerst du herum, dein Politclub, der sich den Wortbruch praktisch auf die Parteifahne gestickt hat, hielte seine Versprechen dir gegenüber nicht ein. Merkst du jetzt, wie sich das anfühlt? Dann weißt du, wie die Millionen Wähler fühlen, die euch inzwischen den Rücken gekehrt haben.

Auf Twitter werden in den kommenden Wochen noch die politischen Zaungäste herumtönen und den Eindruck erwecken, beim anstehenden Mitgliederentscheid sei die Entscheidung nicht schon längst gefallen. Leute, diese Befragung ist ungefähr so aufregend wie die Einkaufszone von Wanne-Eickel. Die Basis war immer schon für die "große" Koalition, und sie wird nicht so dumm sein, das erzielte Verhandlungsergebnis noch zu kippen. Sie feiern noch einmal die große Party am Vorabend der möglichen Katastrophe. Im Moment können sie nur verlieren. In vier Jahren (oder wie lange die Koalition hält) kann vieles passieren, und bei dieser Postenverteilung hat die SPD sogar eine wirkliche Chance, zu zeigen, dass sie mehr wert ist als 20,5 Prozent. Sollte der Versuch schiefgehen, dann zögert sich das Ende wenigstens um ein paar Jahre hinaus. Ich tippe auf mindestens 70 Prozent Zustimmung beim Mitgliederentscheid. Daran ändern die 24.000 Neueintritte auch nicht viel.

Wie vor vier Jahren häufen sich auch jetzt wieder Stimmen, die es für ein Unding halten, dass 463.723 Parteimitglieder die Geschicke des Landes bestimmen dürfen. Das sei verfassungswidrig. Freiheit des Mandats, Sie verstehen?

Ehrlich gesagt, nein. Wir brauchen uns nicht darüber zu streiten, dass der Mitgliederentscheid wieder eine Farce ist, weil die Parteiführung wider einmal mit Rücktritt droht, sollte das Parteivolk nicht nach ihrer Pfeife tanzen. Aber wenigstens gibt es überhaupt eine Möglichkeit, als Basis seine Meinung zu sagen. Ich finde es zwar auch befremdlich, dass Führungsgremien immer dann ihre Liebe zum Plebiszit entdecken, wenn sie keine Lust haben, eine Entscheidung zwischen mehreren gleichermaßen schlechten Optionen zu treffen und die Verantwortung dafür lieber dem Fußvolk in die Schuhe schieben, aber der Koalitionspartner kam ja nicht einmal auf eine derartige Idee. Da entscheidet irgendein Führungskader, und das soll demokratischer sein, oder wie sehe ich das?

Wenn ihr schon in die Verfassung guckt, dann lest bitte auch die Stelle über die Parteien. Die sind da nämlich ebenfalls erwähnt. Was ihr also theatralisch in 5 Verfassungsbeschwerden anprangert, ist ein Dilemma, das unserer Verfassung seit Staatsgründung innewohnt: Die Abgeordneten sind in ihrer Entscheidung frei, aber im Zweifelsfall lassen sie sich von der Fraktion oder der Partei vorschreiben, wie sie zu denken haben. Toll finde ich das auch nicht, aber wer sich mit Politik etwas mehr beschäftigt, als wichtigtuerisch im Grundgesetz zu blättern, merkt schnell: Für dieses Verhalten sprechen mehrere pragmatische Gründe. Nur ein Beispiel: Keine Abgeordnete hat auch nur die Chance, sich in alle Themen einzuarbeiten, über die sie im Plenum entscheidet. Sie hat ihre Spezialgebiete, beim Rest bleibt ihr gar nichts Anderes übrig, als darauf zu vertrauen, dass die anderen Spezialisten in der Fraktion über die anderen Themen Bescheid wissen. Natürlich ist das nicht ideal, aber setzt euch auch nur für eine Legislaturperiode in ein Parlament, dann wollen wir sehen, ob ihr euch immer noch so aufplustert.

Was mich viel mehr interessiert: Wie lang geht die Party? Bei allem Respekt vor dem, was die SPD herausschlagen konnte - der Erfolg ist riskant. Die CDU weiß, dass sie von einer Splitterpartei über den Tisch gezogen wurde, und diese Unzufriedenheit wird sich durch die kommenden Jahre hindurchziehen. Darüber hinaus wimmelt der Koalitionsvertrag nur so vor Wischi-Waschi-Bekundungen. Das ist einerseits gut, weil damit jetzt nicht einfach ein Vier-Jahres-Plan verabschiedet wurde, bei dem man nur noch ergeben ein Thema nach dem nächsten abhakt, auf der anderen Seite gibt es reichlich Konfliktstoff, wenn es irgendwann zum Schwur kommt und sich die Koalitionsparteien darüber einigen müssen, was sie da eigentlich vereinbart haben. Einfach Nasebohren und Aussitzen wird diesmal nicht funktionieren, denn im Parlament sitzen mindestens zwei populistische Parteien, die keine Gelegenheit auslassen werden, die tatenlose Regierung vorzuführen. Es werden also Entscheidungen verlangt, und was dabei herauskommt, wenn man schnell noch auf den letzten Drücker irgendein Gesetz durchpeitscht, haben wir zuletzt beim NetzDG gesehen.


Samstag, 3. Februar 2018

Wand und AStA und Farbe und wieder ein paar Prozent mehr für die AfD

Jetzt ist es amtlich. Die Alice-Solomon-Hochschule wird ein Gedicht von der Außenwand eines ihrer Gebäude entfernen lassen und durch ein anderes ersetzen - eines, bei dem der AStA noch nicht weiß, was daran verwerflich sein könnte. Über Monate zog sich der Streit hin, weit über hundert Artikel und Radiobeiträge sind dazu verfasst worden. Wir lernen: Kunst hat gefälligst kantenlos zu sein, gefällig, weichgespült, und sie hat sich allen unterzuordnen, die mit abenteuerlichsten Argumentationen sich theatralisch als Opfer, als potenzielle Opfer, als potenziell gefährdete Opfer, inszenieren. Nein, das hat natürlich nichts mit Zensur gemein, das erinnert überhaupt nicht an Totalitarismus. Wir hatten nicht im vergangenen Jahrhundert zwei Diktaturen, in denen festgelegt war, welche Kunst der Staatsideologie dienlich und welche "entartet" ist und sollten daraus vielleicht die eine oder andere Lehre gezogen haben.

Die Uni ist kein Bällebad

"Pffkrrz. Achtung, der kleine AStA will gern aus dem Kinderparadies abgeholt werden." Ich weiß nicht, was es diesmal war. Vielleicht waren die Bälle zu grell bemalt, oder Lisa-Marie hatte wieder den Joghurt gegessen, von dem doch alle wissen, dass er nicht vom Demeter-Bauern ist, und damit kommt der kleine AStA gar nicht klar.

Es mag für unsere hoffnungsvollen Nachwuchsakademikerinnen hart sein, aber Hochschulen sind als Orte, an denen unser Land die höchsten Bildungsweihen vergibt, die es hat, nicht als angenehm konzipiert. "Studere", lateinisch für "sich bemühen, abmühen" deutet es bereits an. Idealerweise stellt das Lernen an einer Hochschule jeden Tag aufs Neue die eigenen Überzeugungen infrage. Nichts Anderes ist nämlich Forschung: Hypothesen aufstellen, Experimente zur Überprüfung ersinnen, sie durchführen, und erst, wenn die Hypothesen erfolgreich alle Angriffe überstanden haben, sie ganz vorsichtig in den Rang einer Wahrheit erheben - immer bereit, sie erneut zur Debatte zu stellen.

Da muss man auch einmal damit leben können, an einer Wand vorbeigehen zu müssen, auf der etwas steht, was einem nicht ganz in den Kram passt. Zumal an dieser Wand keine Hakenkreuzschmierereien oder das Horst-Wessel-Lied standen, sondern einfach nur ein Gedicht. Nicht das beste, aber ich habe auch schon sehr viel schlechtere gelesen.

Das sieht der AStA anders. In seiner Weltsicht hat eine Hochschule eine Art Disneyland zu sein. Schon von weitem sieht man Cinderellas Märchenschloss, und je näher man herankommt, desto quietschbunter wird es. Micky, Goofy, Donald und alle ihre Freunde winken schon von fern und wollen mit einem spielen.

Der AStA hat gesprochen

Doch sehen wir uns die Erklärung des AStA genauer an. Es ist ein Dokument fraktaler Dummheit. Egal, wie nah man heranzoomt, es kommt nur Blödsinn dabei heraus:
Dieses Gedicht reproduziert nicht nur eine klassische patriarchale Kunsttradition, in der Frauen* ausschließlich die schönen Musen sind, die männliche Künstler zu kreativen Taten inspirieren, es erinnert zudem unangenehm an sexuelle Belästigung, der Frauen* alltäglich ausgesetzt sind. 
Für diejenigen, an denen die Schuljahre so spurlos vorübergezogen sind, dass elementare Lesekenntnisse nicht zu den erworbenen Kulturtraditionen gehören: Im Gedicht steht nicht "notgeiler Spanner, der alles vergewaltigt, was ihm vors Gemächte kommt", sondern "Bewunderer". Stellen wir uns die Szene noch einmal vor: Da ist eine Allee mit Bäumen, die Sonne scheint wahrscheinlich, es ist ein angenehmer Frühlingstag, nicht zu kalt, nicht zu warm, die Allee entlang gehen ein paar offenbar nicht ganz unattraktive Frauen, und irgendwo abseits steht (oder sitzt vielleicht auf einer Parkbank) ein stummer Bewunderer. Er rennt nicht auf die Frauen zu, quatscht sie an oder betatscht sie, er steht (oder sitzt) einfach nur da und denkt sich: "Meine Güte, was sehen die toll aus." Mehr nicht. Vielleicht ist er viel zu schüchtern, vielleicht lässt er auch jeden weitergehenden Gedanken gar nicht erst zu. Wir wissen es nicht, das Gedicht geht mit Details nicht gerade üppig um. Für den AStA ist das aber alles eine große Suppe. Bewundern, Vergewaltigen - das unterscheidet sich doch allenfalls graduell:
Zwar beschreibt Gomringer in seinem Gedicht keineswegs Übergriffe oder sexualisierte Kommentare und doch erinnert es unangenehm daran, dass wir uns als Frauen* nicht in die Öffentlichkeit begeben können, ohne für unser körperliches „Frau*-Sein“ bewundert zu werden.
OK, fangen wir mit der Art und Weise an, wie sich der AStA menschliche Erstbegegnungen offenbar vorstellt: Wenn ein Mensch eine Frau sieht, muss er oder sie sofort jeden optischen Eindruck von ihr aus dem Gedächtnis bannen, damit nicht die Gefahr einer darauf basierenden Sym- oder Antipathie besteht. Dann geht Mensch - ganz wichtig, mit abgewendetem Gesicht, bloß nicht ansehen - auf die Frau zu, überreicht ihr ein Klemmbrett mit einem IQ-Test und einem auszufüllenden Charakterprofil und fordert sie in möglichst teilnahmslosen Ton auf, die Unterlagen durchzugehen und wieder zurückzugeben. Nachdem Mensch auf diese Weise sich einen Eindruck der nicht-äußerlichen Merkmale der Frau verschafft hat, hinterlässt Mensch seine Kontaktdaten bei einer Vermittlungsbehörde, damit die Frau sich auf keinen Fall gegen ihren Willen angesprochen fühlt. Sollte es in der Zukunft zu einem schriftlichen oder - G'tt bewahre! - gar mündlichen Informationsaustausch kommen (was dazu führen könnte, dass die Frau aufgrund des Klangs ihrer Stimme irgendwelche von ihren inneren Werten ablenkenden Daten hinterlassen könnte), ist natürlich streng darauf zu achten, dass Mensch die Frau niemals zu sehen bekommt, denn das sind ja Äußerlichkeiten, und die könnte man ja bewundern.

Ich will ja nicht dem Islam das Wort sprechen, aber der hat sich für genau solche Fälle die Ganzköprerverschleierung einfallen lassen. Das ist in unserer technologisierten Welt natürlich nicht mehr zeitgemäß. Vor allem kann man es Frauen nicht zumuten, sich äußerlich so zu geben, dass an ihnen nichts Bewundernswertes zu sehen ist. Das wäre nämlich Victim Blaming. Wahrscheinlich wäre es eine gute Idee, alle trügen Augmented-Reality-Brillen, die automatisch alle Menschen mit schwarzen Rechtecken überblenden und nur den Blick auf diejenigen freigeben, die in einer Datenbank als sich eindeutig männlich Identifizierende hinterlegt wurden. Die anzusehen und für ihr Äußeres zu bewundern, ist aus Sicht des AStA OK.
Die U-Bahn-Station Hellersdorf und der Alice-Salomon-Platz sind vor allem zu späterer Stunde sehr männlich dominierte Orte, an denen Frauen* sich nicht immer wohl fühlen können. Dieses Gedicht dabei anzuschauen wirkt wie eine Farce und eine Erinnerung daran, dass objektivierende und potentiell übergriffige und sexualisierende Blicke überall sein können. 
Und daran hat dieses Gedicht - nochmal welchen Anteil? Ah, da steht's:
Eine Entfernung oder Ersetzung des Gedichtes wird an unserem Sicherheitsgefühl nichts ändern. Dennoch wäre es ein Fortschritt in die Richtung, dass es unsere Degradierung zu bewunderungswürdigen Objekten im öffentlichen Raum, die uns Angst macht, nicht auch noch in exakt solchen Momenten poetisch würdigen würde. 
Bei weiteren Fragen oder konkreten Vorschlägen für alternative Gedichte, stehen wir gerne zur Verfügung  
Oder, ehrlicher formuliert: Das nächste Gedicht hat gefälligst in Zusammenarbeit mit uns ausgewählt zu werden, sonst treten wir noch einmal so eine Welle los.

Verteidigungsversuche

Es hagelte Kritik, aber es gab auch einige - personell wenig überraschende - Versuche, das Gedichteüberpinseln moralisch zu rechtfertigen. Leider fielen sie argumentativ reichlich dünn aus:

"Die Nazis sind auch gegen das Wändestreichen." Ich gebe zu, es verwirrt mich auch, dass gerade die AfD sich auf einmal für Kunstfreiheit einsetzt, zumal sie andernorts ein etwas gespannteres Verhältnis zu den Musen hat, aber auf der anderen Seite: Ist eine Meinung deswegen automatisch falsch, weil ein Nazi sie hat? Wenn die AfD - einfach, um euch zu ärgern - im Bundestag einen Antrag zur Erleichterung des Familiennachzugs einbrächte, wärt ihr dann auf einmal dagegen? Kann man euch wirklich so leicht vor sich hertreiben?

"Es ist doch schön, wenn sich junge Leute politisch engagieren." Ja, das ist es in der Tat. Es ist auch das Recht, vielleicht sogar die Pflicht der jüngeren Generation, überspitzte Positionen zu vertreten. Kompromisse schließt man schon früh genug ab. Und genau weil es zum politischen Diskurs gehört, für eine schlechte Argumentation für einen idiotischen Standpunkt öffentlich die Rechnung zu kassieren, dürfen sie auch diese Lektion lernen. Früher beim Krippenspiel im Kindergarten war es noch niedlich, wenn Josef den Text vermasselte. Gut eineinhalb Jahrzehnte später gelten andere Qualitätsmaßstäbe, insbesondere für Studierend_innen einer staatlichen Hochschule.

"Und was ist mit Dieter Wedel?" Say what? Ernsthaft? Ist das euer Argument? Für genau diese Rhetorik, vom eigentlichen Diskussionspunkt abzulenken und auf ein völlig anderes Thema abzulenken, habt ihr doch eigens einen Kampfbegriff erfunden: Whataboutism. Es ist doch genau eure Taktik, dass Dinge total böse sind, wenn ihr sie mit eurem Pseudofachvokabular runterputzen könnt. Genau dafür und für nichts Anderes habt ihr sie doch alle erfunden, die ganzen Zauberworte wie Mansplaining, Ableism, Derailing oder Lookism. Wenn andere außer Euch so etwas benutzen, dann ist die Aufregung groß, aber wenn ihr selbst euch dieser Mittel bedient, dann ist das auf einmal in Ordnung? Könnten wir uns vielleicht entweder darauf einigen, dass keine Seite diese Verhaltensweisen einsetzt oder, was ich persönlich bevorzuge, dass wir einander tief in die Augen schauen, einsehen, dass diese Kampfvokabeln kompletter Schwachsinn sind und sie dann ganz schnell in einem ganz tiefen Loch entsorgen?

"Haben wir wirklich nichts Wichtigers, um das wir uns streiten?" Stimmt, haben wir, und genau hier setzt meine grundsätzliche Kritik an. Ihr behauptet, für eine bessere Welt zu kämpfen, und an einigen Stellen habt ihr sogar Erfolg, Im Großen und Ganzen aber begeht ihr die gleichen Fehler wie vor einem halben Jahrhundert die 68er: Die große Revolution blieb aus, abgesehen von ein paar kleinen Verbesserungen blieb hierzulande vieles gleich, und weil keiner das zugeben wollte, fingt die 68er auf einmal an, sich für Lateinamerika zu interessieren - ganz gewiss kein unwichtiges Thema, aber doch ganz klar eine Ausweichreaktion, weil es im eigenen Land nicht voran ging. Genau der gleiche Quatsch passiert gerade noch einmal. Wieder einmal stellt die "Linke" beleidigt fest, dass ein 80-Millionen-Land nicht über ihr Stöckchen hüpfen möchte, ja schlimmer noch: dass eine Gegenbewegung einsetzt, gefährlich, aggressiv und bisweilen sogar brutal. Keiner hat eine wirklich gute Idee, was man der erstarkenden Ultrarechten entgegensetzen kann. Es gibt viele Analysen, einige Ideen, aber es sieht so aus, als müssten wir uns zumindest mittelfristig darauf einstellen, dass ein Sechstel der hier lebenden Menschen offen rechtsreaktionär auftritt. Auch das linke Spektrum hat das begriffen, und weil es sein Versagen nicht eingestehen mag, wendet es sich gegen die eigenen Leute. Hier lassen sich wenigstens noch Erfolge erzielen, denn Gegner in den eigenen Reihen wehren sich natürlich nicht ernsthaft. Für den Moment mögen die auf solche Weise gewonnenen internen Scharmützel über die verlorenen echten Schlachten hinwegtäuschen, aber der Preis ist hoch: Immer weniger Leute haben für die zunehmend abgefahrenen Argumentationen (so steht zum Beispiel  "Person of Color" inzwischen nicht mehr für Menschen nicht-weißer Hautfarbe, sondern für "Menschen, die von Rassismus betroffen sind", also auch Polen, die durch das Vorurteil, Diebe zu sein, in Deutschland diskriminiert werden) noch Verständnis und lassen sich vom diffusen Versprechen der Ultrarechten ködern, mit diesem Unsinn aufräumen zu wollen. Ich weiß nicht, wie Sie das sehen, aber mir wird dabei mulmig.

Sie werden es nicht begreifen. Bis zuletzt.

Wenn eines Tages die AfD mit in der Regierung sitzt, wenn wieder unter abenteuerlichen Anschuldigungen Oppositionelle verfhaftet und in fragwürdigen Verfahren verurteilt werden. Wenn - nicht nur in Sachsen, sondern bundesweit - der Mob das erledigt, was der zu diesem Zeitpunkt schon arg gebeutelte Rechtsstaat sich nicht zu erledigen traut, werden die "Linken" ungäubig auf die Wahlergebnisse starren und sich beleidigt fragen, warum das Volk sich von ihnen abgewendet hat, statt ihnen dankbar zuzujubeln.